Was ist eigentlich Hochsensibilität?
Wir kennen alle das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse, die so empfindlich war, dass sie selbst unter einer stattlichen Anzahl von Matratzen eine klitzekleine Erbse so intensiv gefühlt hat, dass sie sehr schlecht schlief. Darüber hinaus hatte sie am nächsten Tag auch grüne und blaue Flecken von der kleinen Erbse. Sie fühlte sich wie gerädert. So empfindsam war sie. Die Prinzessin auf der Erbse ist als Figur wohl eine „hochsensible“ junge Frau gewesen und konnte daher Reize intensivst wahrnehmen.
Hochsensibel sind Menschen, die eine „höhere sensorische Verarbeitungssensitivität“ haben. Sie erleben und verarbeiten Reize anders und intensiver[i]. Im Kern äußert sich Hochsensibilität bei vielen Menschen durch ein stärkeres Wahrnehmen der Außenwelt: von Geräuschen, Gerüchen, Stimmungen. Dies gilt genauso für innere Zustände: Schmerz, Hunger, Freude etc. Oft brauchen Hochsensible aufgrund dieser erhöhten Wahrnehmung mehr Zeit, um sich zu regenerieren. Inzwischen ist glücklicherweise immer mehr Menschen bewusst, dass Hochsensible zum Beispiel im Rahmen der Selbstfürsorge gut auf sich achten sollten. Aufgrund der vermehrten Reizwahrnehmung ist es wichtig, dass sie sich aus bestimmten Situationen immer wieder herausnehmen können.
Doch das ist gerade in einer hektischen Umwelt oft schwierig. Ich selbst, auch hochsensibel, vergesse das leider auch immer wieder. Und die Quittung kommt dann über den Körper und die Psyche: Eine erlebte sensorische Überlastung „bezahle“ ich oft mit Kraftlosigkeit, Abgeschlagenheit oder mit Infekten.
Heikel wird es, wenn Hochsensible Mutter werden
Wenn wir nochmal an unsere hochsensible Prinzessin auf der Erbse denken, wäre es nicht interessant, das Märchen weiterzuspinnen? Denn es hört ja an einem spannenden Punkt auf. Die Prinzessin hatte den Test bestanden und bekam den Prinzen. Und dann? „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!“ Höchstwahrscheinlich wurde sie Mama und gebahr eine(n) Trohnfolger (-in).
Damit sind wir an einem ebenso spannende wie heiklen Punkt: Wie verträgt sich das Konzept der Mutterschaft mit einer erhöhten Reizverarbeitung in der Hochsensibilität?
Wir können wohl festhalten, dass Kinder aus Sicht der Eltern eines der größten Geschenke sind, die wir bekommen können. Sie sind ein Wunder, das wir als Mama spüren, ertasten und riechen können. Später halten wir dieses Geschenk – im wahrsten Sinne des Wortes – in den Händen: ein Baby-Vanille-Geruch, die kleinen Fingerchen, das uneingeschränkte Urvertrauen, mit dem sie sich uns entgegenstrecken. Auch hier ein Feuerwerk an großartigen, sensorischen Eindrücken. Und ein magisches Gefühl von Verbundenheit.
Viele Hochsensible sind starke „Geber“: Wie bereits festgestellt, können sie Freude sehr intensiv, ja geradezu euphorisch und tief wahrnehmen. Das ist jedoch aus meiner Erfahrung auch bitter nötig, wenn hier auch die Schattenseiten der Hochsensibilität zuschlagen.
Wunschvorstellung trifft auf hochsensible Realitität
Hochglanzwerbung mit glucksenden und brabbelnden Babys versprechen meist eine Elternzeit voller Wonne. Die Realität sieht oft anders aus: Schlafentzug, Weinen und Schreien, das gerade bei Babys schrill und laut sein kann. Dazu ein getakteter Tag mit Füttern und Wickeln. Das, was für „normale“ Mütter schon eine Tortur sein kann, potenziert sich bei Hochsensiblen in der Wahrnehmung. Und so brauchen viele Hochsensible aufgrund ihrer überforderten sensorischen Kapazität ausreichend Zeit sich zu regenerieren: Alleinsein, Ruhe tanken, schlafen. Das ist eine Strategie, die Hochsensiblen sehr dabei hilft, wieder Kraft zu tanken und sich zu zentrieren.
Damit hatte die Prinzessin auf der Erbse wahrscheinlich keine Probleme. Es war ja früher üblich, das eigene Kind von einer Amme aufziehen zu lassen. Somit gab es für die Prinzessin ruhige Nächte und auch Tage, wenn sie wollte. Aber wie können wir „Normalsterblichen“ dies umsetzen.
Tipp Nummer eins für hochsensible Mütter: Ausreichend schlafen!
Das erste und wichtigste, was mir meine Hebamme mitgab war: „Schlafe, wenn dein Kind schläft!“
Das sollte wohl jede Mutter tun. Leider wusste ich damals noch nichts von meiner „Gabe“ der Hochsensibilität und ignorierte diesen Ratschlag zu oft. Ich dachte tatsächlich, wenn ich schon nicht im klassischen Sinne „produktiv“ bin, dann sollte ich doch mindestens die Wohnung aufräumen, waschen usw., während mein Kind schläft. Das war eine ganz blöde Idee, die vielleicht mit dazu beigetragen hat, dass ich in eine postpartale Depression geschlittert bin.
Zwar bin ich nach einiger Zeit aus dieser Phase wieder herausgekommen. Es ist jedoch wichtig zu wissen ist, dass es bei hochsensiblen Frauen ein 8,5 mal höheres Risiko exisitiert, eine psychische Störung zu bekommen[ii].
Tipp Nummer zwei – Lass dir helfen, gib dein Kind ab!
Auch hier hatte es unsere Prinzessin wahrscheinlich leicht: Gutes Personal zum Säubern, Füttern, Einkleiden usw. hatte sie wohl. Und so konnte sie sich wohl gut regenerieren.
Unsere Realität sieht meist ganz anders aus: Zwar gibt es während der Elternzeit zum Glück durchaus gute Hilfsangebote von den Kirchen, den karitativen Vereinen oder von den Städten und Kommunen: z.B. Leihomas, Projekte, in denen ehrenamtlich Frauen und Männer die Mütter unterstützen oder auch kostenlose Beratungsgespräche. Da kann man nur nachdrücklich nahelegen, diese Angebote als frischgebackene Mama auch anzunehmen.
Besonders (Über-)Fordernd: Der Spagat zwischen Familie und Beruf
Doch nach der Elternzeit sieht es meist schwieriger aus als im Märchen: Es gibt einen Spagat zwischen Karriere/Berufstätigkeit, Kindergarten, Schule, Elternabenden, Mama-Taxi zu Nachmittagsveranstaltungen, Aufräumen, Waschen, Lernen und und und… Natürlich teilen sich viele Paare diese Arbeiten immer besser auf. Aber die Realität sieht zur Zeit leider noch oft so aus, dass Frauen im Haushalt und bei den Kindern mehr Pflichten zusätzlich zu ihrer – meist teilzeitorientierten – Berufstätigkeit übernehmen.
Schwierig hieran für hochsensible Mütter ist die u.a. die rasche Abfolge der unterschiedlich, meist schnell getakteten Termine hintereinander mit sehr unterschiedlichen Anforderungen und „Umschalten“. Das ruft einen Stresslevel hervor und auch hierbei können sie „ausbrennen“, oft zum Unverständnis anderer.
Zentrieren, aber wie?
Zwischen JEDER neuen Tätigkeit, die wir ausüben, 5 bis 10 Minuten Pause zum Ausruhen einbauen. Denn der Tag ist lang. Das kann bedeuten: Meditieren (Timer auf 5 min. stellen, einfach sitzen und atmen mit geschlossenen Augen und die kommenden und gehenden Gedanken beobachten) oder einfach an der frischen Luft spazieren gehen.
Letzteres hat mich oft gerettet. Unser erster Sohn war ein Schreikind. Nur wenn ich ihn draußen im Kinderwagen durch den Park geschoben habe, schlief er mittags ein. Ich hielt mich am Kinderwagen fest und war unendlich müde. Doch die frische Luft, die Natur und die Stille halfen mir meine leeren Batterien wieder aufzuladen.
Achtsamkeit als Rettungsanker
Achtsamkeitsübungen kann ich anderen hochsensiblen Müttern sehr ans Herz legen. Durch Atemübungen zentrieren wir uns wieder und können besser Grenzen nach außen setzen, da wir als Hochsensible oft zu empfangsbereit und durchlässig für andere sind. Das gilt insbesondere, wenn es zu Hause wieder mal um unaufgeräumte Zimmer geht oder lautstarke Streitereien unter Geschwistern an unseren Nerven gezerrt haben. Habt einfach mal den Mut euch zurückzuziehen und zu sagen: „Ich möchte jetzt für 10 Minuten ungestört sein.“ Das funktioniert auch gut im Auto auf dem Parkplatz vor einem Elternabend oder einer sonstigen Pflichtveranstaltung.
Der Fokus auf das Positive stärkt unsere Balance
Um nach einer unruhigen Nacht deinen Fokus auf das Positive zu legen, beginne den Tag mit einer Dankbarkeitsübung: Schreibe in Stichworten 5 Dinge auf, für die du dankbar bist und aus welchem Grund du es bist.
Du wirst sehen: Die Energie folgt der Aufmerksamkeit. Wenn ich meinen Fokus auf etwas Schönes lenke, werde ich höchstwahrscheinlich auch diese Dinge vermehrt wahrnehmen.
Um einen noch größeren Effekt zu haben, kannst es auch leise oder laut „Danke!“ sagen. Versuche dabei das Gefühl von Wertschätzung oder Dankbarkeit in deinem Körper aufkommen zu lassen. Ich lege dabei gerne meine Hände auf meine Herzregion. Für manche mutet das sehr spirituell an. Diese Übung wird jedoch auch im klassischen Coaching gemacht.
Wir wissen inzwischen, dass unsere Emotionen entscheidend für unser Wohlbefinden sind. Wertschätzung und Dankbarkeit schütten einen ganzen Cocktail an Hormonen in unserem Körper aus, der unser Stresslevel spürbar senkt. Gleichzeitig stärken wir damit nachweislich auch unser Immunsystem[iii].
Noch mehr Tipps für hochsensible Mamas
Es gibt noch weitere Dinge, die wir hochsensiblen Mamas tun können, um aus der sensorischen Überlastung wieder herauszukommen:
Hier eine kleine Auswahl:
Abgrenzungsübungen machen[iv] und den Kindern klare Grenzen setzen, auch wenn es oft schwer fällt!
Achte darauf, was und wann du etwas isst. Gerade für hochsensible Mütter sind regelmäßige Mahlzeiten extrem wichtig. Ich werde, wie viele andere, oft schneller wütend, dünnhäutig und ungeduldig, wenn ich eine Mahlzeit ausfallen lasse. Ein Helfer in der Not unterwegs sind getrocknete Früchte und Nüsse. Die können wir immer dabeihaben.
Zu viel Alkohol erhöht die Überlastung nur noch und lässt uns schlechter schlafen. Gleiches gilt für zu viel Kaffee und Schwarztee.
Für ein gutes „Runterkommen“ empfehle ich den Duft von reinem ätherischem Lavendelöl. Ein paar Tropfen auf dem Kopfkissen (bitte nicht im Beisein des Babys oder Kindes!!) oder im Badewasser wirken Wunder. Wissenschaftler an der Uni Bochum haben herausgefunden, dass übrigens neben Lavendel auch Jasminduft so beruhigend wirkt wie Valium, nur ohne unangenehme Nebenwirkungen[v].
Höre entspannende Musik. Musik hat die Kraft Spannungen aufzuheben, zu inspirieren und zu heilen.
Die für mich wichtigste Empfehlung: Hab Spaß mit deinem(n) Kind(ern)! Es geht doch darum, in unseren Kindern Begeisterung und Neugierde für die Welt zu entfachen. Nichts ist heilsamer als unbeschwertes Kinderlachen. Auch für unser eigenes inneres Kind. Das darf dann mitlachen.
Ich hoffe, dass die Prinzessin auf der Erbse viel gelacht hat mit ihren Kindern. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Wahrscheinlich sogar hochsensibel und glücklich!
Wir werden bei unseren Kindern leider nicht durch einen ganzen Hofstaat unterstützt. Dafür dürfen wir frei unser eigenes Leben mit Kindern gestalten. Helfen lassen können wir uns auch. Wir müssen es nur tun.
Zur Autorin:
Julia Augenstein ist (elterngarten) Coach und lebt und arbeitet in der Region Düsseldorf/Köln/Bonn. Sie hilft v.a. Frauen und Müttern in ihrem Spagat zwischen Beruf, Berufung und Familie (wieder) glücklich zu werden.
Zum Weiterlesen:
[i] Nele Langosch: Persönlichkeit: Gibt es hochsensible Menschen? In: www.spektrum.de. Spektrum der Wissenschaft, 9. Juni 2016,abgerufen am 12. Januar 2019
[ii] Sandra Konrad, Philipp Yorck Herzberg: Psychometric Properties and Validation of a German High Sensitive Person Scale (HSPS-G). In: European Journal of Psychological Assessment. 7. April 2017, ISSN 1015-5759, S. 1–15, doi:10.1027/1015-5759/a000411 (hogrefe.com [abgerufen am26. Februar 2019]
[iii], S.41-52, Susanne Marx, Herzintelligenz kompakt, Kirchzarten bei Freiburg, 2015
[iv] https://www.zartbesaitet.net/Liebevoll_abgrenzen.pdf
[v] Hanns Hatt/Regine Dee, „Niemand riecht so gut wie du“, S. 266, 267, München, 2018
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